Mit 24 anderen mörderischen Schwestern habe ich am 13.5. das Institut für Rechtsmedizin in Hamburg besucht. In diesem Blogbeitrag schildere ich meine Eindrücke und Empfindungen. Ich erzähle dir, was ich gesehen und gefühlt habe und von meinen Gedanken über den Tod. In diesem Beitrag kommen Leichen im Text vor.
Der Besuch in der Rechtsmedizin war schon zwei Monate in der Regiogruppe der mörderischen Schwestern angekündigt. Ich habe mich sofort angemeldet, obwohl ich nicht von Anfang an sicher war, ob ich mir auch die Obduktion anschauen werde. Eigentlich wollte ich das von Anfang an, aber ich hatte auch großen Respekt davor. Respekt vor den Toten, die ich sehen würde, und Sorgen, wie ich diesen Besuch verkraften würde.
Gedanken vorher
Ich bin sehr rechtzeitig mit der Bahn nach Hamburg gefahren, weil ich auf keinen Fall zu spät kommen wollte. Ich war dann 1,5 Stunden vor der verabredeten Zeit, an der wir mörderischen Schwestern uns treffen wollten, am Institut. In der Zeit habe ich mir das Institut schon einmal von außen angeschaut. Dann bin ich noch ein bisschen in der Umgebung spazieren gegangen, um schließlich auf einer eingewachsenen Bank zu landen. Dort saß ich dann.
Auf der Bank denke ich darüber nach, dass ich in wenigen Stunden Tote sehen werde. Ein merkwürdiger, ein fast abstrakter Gedanke. Ich nehme mein Journal aus der Tasche, beginne zu schreiben, um meine Gedanken und Gefühle wahrzunehmen. Zunächst nehme ich die Umgebungsgeräusche wahr: ich höre einen Rasenmäher, eine Taube gurrt, Schritte knirschen auf einem Kiesweg, eine Fahrrad-Gangschaltung klackert, Autoreifen surren über den Asphalt. Ich bemerke, dass mir die Füße weh tun vom Schwitzen und Laufen. Mist, bei einer Obduktion muss man stehen. Jedenfalls ist das im Fernsehen so.
Tod. Rechtsmedizin heißt Gewalt und Tod. Obduktion heißt Tod. Ich konfrontiere mich heute mit der Endlichkeit des Lebens. Des Lebens überhaupt. Von einem Menschen. Und mit meiner Endlichkeit.
Was kann ich im Angesicht dessen, dass ich eines Tages sterben werde, für ein erfülltes Leben tun? Was an zuviel kann ich lassen?
Mich treibt es von der Bank, obwohl es viel zu früh ist. Ich komme an einem Beet mit welkenden Tulpen vorbei. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass verwelkende Tulpen schön sind.
Vor dem Institut der Rechtsmedizin stehen schon zwei Frauen. Ich erkenne eine mörderische Schwester und gehe freudig hin. Auch die beiden waren rechtzeitig losgefahren, um den Termin nicht zu verpassen. Wir ratschen. Immer mehr Schwestern kommen dazu. Wir gehen irgendwann vor das Gebäude. Wir sprechen übers Schreiben, über Krimis. Natürlich kommt die Frage auf: Schaust du dir die Obduktion an? Respekt, Ehrfurcht und Krimiautorinnenneugier mischen sich.
In einem Seminarraum
Wir sitzen um zu einem großen Tisch zusammengestellte weiße Tische. Auf dem Boden rauer Büroteppich. Ich ratsche mit einer Kollegin. Dann kommt Prof. Dr. med Püschel, der Institutsleiter und der Gastgeber des Abends. Er erzählt uns zunächst allgemeine Dinge über die Struktur der Rechtsmedizin in Deutschland z.B. dass die Institute über die Grenzen des Bundeslandes hinaus zuständig sind, dass es, wenn alles glatt läuft, elf Jahre dauert, bis man Rechtsmediziner ist (6 Jahre Medizinstudium, dann 5 Jahre Facharztausbildung). Geplant war, dass er eine Stunde erzählt und wir dann ins Institut gehen. Das wurde länger. Er erzählt eine Stunde, wir fragen ihn eine Stunde. Geduldig und mit Freude antwortet und erzählt Püschel von seiner Arbeit. Dann sind wir fertig mit Fragen.
„Sie wissen, dass Sie hier Tote sehen?“ fragt er uns. Ja, ist uns allen bewusst. Er hat drei Tote für uns: Eine äußere Leichenschau, eine abgeschlossene Obduktion und eine wissenschaftliche Sektion (nach dem Hamburger Sektionsgesetz kann sich jeder nach dem Tod obduzieren lassen, damit die genaue Todesursache festgestellt werden kann).
Des weiteren erklärt er uns, dass, wenn einer von uns schlecht wird und wir rausgehen müssen, wir das unbedingt tun sollen. Und er bittet uns aufeinander zu achten und immer zu zweit aus dem Sektionssaal zu gehen. Falls eine ohnmächtig wird, damit sie sich nicht verletzt.
In der Ambulanz
Doch zunächst gehen wir in die Ambulanz, denn im Institut werden nicht nur tote, sondern auch lebende Menschen untersucht. Opfer und Täter. Letztere allerdings eher auf der Polizeiwache oder im Gefängnis. Verbrechensopfer werden untersucht und ihre Verletzungen gerichtssicher dokumentiert. Und ich lerne eine wichtige Sache: Es gibt ein Medikament, dass eine mögliche HIV-Infektion, z. B. nach einer Vergewaltigung, verhindern kann. Das Medikament muss zeitnah, am besten innerhalb von 2-4 Stunden nach dem HIV-Risiko, eingenommen werden, damit es wirken kann. Das ganze heißt: Postexpositionsprofilaxe (PEP).
Im Keller
Der Sektionsbereich ist im Keller des Instituts. Gegen meine Erwartungen ist nicht der Geruch nach Desinfektionsmitteln dominierend, sondern ein süßlich intensiver etwas fauliger Geruch. Eine Kollegin findet, es riecht nach altem Käse.
Wir schauen in der Anthropologischen Sammlung vorbei. Dort arbeiten und lernen Knochenfachleute. Dann nähern wir uns dem Sektionssaal.
Vorm Sektionssaal
Für Prof. Püschel bedeutet es Wertschätzung den Toten gegenüber, wenn ihre genaue Todesursache ermittelt wird.
Wir alle müssen einen grünen Kittel anziehen, der hinten zugebunden wird. Damit können wir aus den hinteren Reihen zu sehen. Wer näher an die Toten herangehen will, muss auch Mundschutz und Überschuhe anziehen, wer die Toten berühren will, auch noch eine Plastikschürze und Handschuhe.
Ich oder viel mehr mein Unterbewusstsein entscheidet sich, nur den Kittel anzuziehen und damit in für mich verarbeitbarer Entfernung zu den Leichen zu bleiben.
Als wir den Sektionssaal betreten, sind alle drei Toten mit einem grünen Tuch abgedeckt. Püschel deckt die erste Leiche auf und erklärt uns, was wir sehen. Die Leiche ist noch nicht obduziert und die Todesursache noch nicht geklärt. Die Leiche wird wieder zugedeckt und der Assistent schiebt sie aus dem Sektionssaal.
Ich achte auf meinen Atem und wie es mir geht. Was will und was kann ich mir zumuten? Ich freue mich, dass ich lebe, entscheide, dass es mir gut geht und ich auch den nächsten Toten ansehen werde.
Die Leiche wird aufgedeckt. Sie ist im Zustand nach der Obduktion, d.h. der Mann hat eine große Y-Naht auf dem Oberkörper, die ich aus meiner Entfernung aber nicht so genau sehen kann. Der Mann ist erkennungsdienstlich behandelt worden, seine Hände sind schwarz von dem Fingerabdruckmittel.
Er ist nach einer Schlägerei gestorben und das ist an seinem Gesicht erkennbar. Mir kommen die Tränen. Dort liegt ein Mensch, den ein anderer Mensch getötet hat. Ich gehe durch einen Moment der Empathie, konzentriere mich wieder auf meinen Atem und dann schaue ich weiter zu. Dann wird auch dieser Tote wieder mit dem grünen Tuch zugedeckt und aus dem Raum geschoben.
Wir wenden uns dem dritten Sektionstisch zu. Dort liegt eine abgedeckte Tote. Der Prof erklärt uns, dass wir jetzt an einer Sektion teilnehmen können, dass diese ungefähr eine Stunde dauern wird. Ich stehe ziemlich weit hinten, einige andere sind aus dem Raum in den Flur gegangen.
Die Sektion beginnt und wir sind alle ziemlich still. Zunächst zeigt der Prof uns das Werkzeug, dass er und sein Assistent benutzen werden. Er erklärt überhaupt sehr viel und er ermuntert uns Fragen zu stellen. Ich weiß nicht, ob er sagt, dann ist es leichter oder ob es bei mir so ankommt. Ich kann nichts fragen, aber einige andere fragen.
Die Sektion beginnt am Kopf. Der Schädel wird geöffnet und das Gehirn entnommen. Dann wird der Brustkorb geöffnet und der Prof zeigt das Herz und die Lunge. Das ist interessant, aber das ist auch der Moment, in dem ich den Sektionssaal verlasse. Mir ist das alles plötzlich zu viel. Im Flur vorm Sektionssaal hat jemand ein Fenster geöffnet und ich halte die Nase aus dem Fenster. Atme tief ein und aus.
Ich rede mit ein paar anderen Frauen im Flur. Einige wollen nach Hause gehen, aber die Tür ist abgeschlossen. Der Professor unterbricht die Sektion und lässt eine große Gruppe gehen. Ich entscheide mich zu bleiben. Ich möchte nicht mit den Bildern im Kopf von der aufgeschnittenen Frau gehen. Ich muss für meinen Frieden sehen, dass sie wieder zu genäht wird.
Ich gehe wieder in den Sektionssaal. Ich stehe jetzt am Fußende (in sicherer Entfernung) und nicht mehr so, dass ich die komplette Tote sehen kann. Und dann hat ein Wechsel in mir stattgefunden, die Neugier ist größer geworden, das Unbehagen verschwunden. Ich sehe Darm, Mageninhalt, Gebärmutter, das innere des Gehirns. Ich bringe hier die Reihenfolge durcheinander, aber es sieht alles aus wie im Biologiebuch.
Zum Schluss schneidet der Prof das Herz auf, die Frau war an Herzversagen gestorben. Die Obduktion bringt Klarheit: die Frau ist an einem Aortenaneurysma gestorben. Der Kommentar des Profs: Das kann uns alle treffen, jeden Moment. Der Assistent hat schon begonnen, die Tote wieder zuzunähen, alle Organe sind wieder im Brust und Bauchraum untergebracht. Wir verlassen den Sektionssaal. Aufräumen muss der Assistent.
Wieder im Seminarraum
Wir sitzen wieder im Seminarraum und der Professor hat etwas großes, leichtes in einem grünen Tuch dabei: den Diepholzer Dachbodenfund. Eine Mumie. Genauer eine gefälschte Mumie, die im Institut für Rechtsmedizin in Hamburg untersucht worden ist. Das bringt für mich wieder Leichtigkeit in den Abend, nach dem intensiven Erlebnis. Wir bedanken uns und gehen. Ich tausche mich mit einer mörderischen Schwester, die mich zum Bus begleitet, über das Erlebte aus. Dann fahre ich mit der Bahn wieder nach Hause.
Danach
Die Tage danach lebe ich sehr intensiv. Ich genieße die schönen Momente des Lebens noch mehr als vorher. Der Besuch im Institut und die Sektion haben mich sehr beeindruckt und berührt. Aber es wird meine erste und einzige Teilnahme an einer Obduktion bleiben. Und im zweiten Taval-Krimi werden die Ergebnisse einer Obduktion eine Rolle spielen und eventuell wird ein Rechtsmediziner vorkommen.